Zwölf zylindedörmige Holzskulpturen stehen auf der Wand und ragen in den Raum. Bei ihnen handelt es sich nicht um Reliefs, sondern um Vollplastiken. Doch der Vergleich mit Bekanntem versagt, sind wir doch gewohnt, vollplastische Figuren in einem architektonischen Bezug, seien sie gegenständlich abbildend oder völlig frei von jeder verbindlichen Wiedergabe der Erscheinungswirklichkeit. mit einer dominierenden Ansicht vor die Mauer, in eine Nische oder auf eine Konsole gestellt zu erleben. Johannes Bierlings Holzskulpturen besitzen jedoch Allansichtigkeit, sind in begrifflicher Eindeutigkeit Rundplastiken. Sie stehen nicht parallel zur Wand, sondern im denkbar radikalsten Richtungskontrast des rechten Winkels zu und auf ihr. Die ansonsten horizontale Standfäche ist in die Vertikale gekippt. Räumliche Distanz wird nicht in einer Ebene, sondern aus der Höhe erfahren.
Da alle zwölf Arbeiten 21 cm hoch sind und mit einer klaren Schnittfläche enden. könnte man annehmen, es handle sich dabei um einen Querschnift plastischer Figuren. Doch die mehr oder weniger willkürliche Festlegung des Höhenmaßes eines solchen Schnitts würde Linweigerlich Zufallsformen ergeben. Die vorderen, dem Betrachter zugewandten wandparallenen Seiten besitzen jedoch eine formale Prägnanz von zeichenhaftem Charakter. Gemeinsam ist ihnen die Kreisform mit dem Durchmesser von 16,5 cm. Ihr Mittelpunkt bestimmt die Gliederung, der von dem horizontalen oder vertikalen Durchmesser bzw. durch deren Schnittpunkt z. B. bei Nr. 111 (Abb. Seite 19) betont wird. Diese Grundform ist wegen des skulpturalen Eingriffs materiell gelegentlich aufgehoben und existiert weitgehend nur als virtuelle Gestalt. So setzt sich z.B. in den Arbeiten Nr. VIII und Nr. X (Abb. Seite 23) der horizontale Holzsteg jenseits der Vertikalen zwar in formaler Übereinstimmung, aber in einem nutartigen bis zur Basis freigelegten Hohlraum fort.
In Nr. 11 (Abb. Seite 18) bleiben lediglich ein Winkel, in den Nummern 1. VII und V (Abb. Seite 17, 27 und 22) lediglich Kreissogmente an den Enden der Horizontalen als Restbestände der Ausgangsform bestehen. Diese wird bei Nr. XI und XII (Abb. Seite 28 und 29) entgegen der Stege und Nutenräume durch die Kanten von plastischen Teilkörpern bestimmt.
Der eigentliche skulpturale Eingriff odolgt ausschließlich von der Schauseite aus, Johannes Bierling nimmt also einen Standod für die künstlerische Gestaltung über der Plastik ein und entwickelt somit seine Form auf die eigentliche Basis zu. Die Wahrnehmung des Betrachters aus der Vogelperspektive entspricht also völlig dem künstlerischen Vorgehen, von der oberen Begrenzung einer Skulptur aus sowohl gedanklich wie auch ganz konkret handwerklich dem kompakten Volumen der Serie räumliche Qualität zu verleihen.
Mit der japanischen Ziehsäge werden Schnitte gesetzt, welche in den zylindrischen Körpern stereometrische Räume eröffnen, die, wie bereits erwähnt, an Nute oder aber auch an Schächte erinnern, insofern sie in konsequenter Parallelität zur senkrechten Mittelachse angebracht sind. Hier sieht man sich an die theoretischen Schriften von W. Kandinsky und P. Klee erinnert. Diese legten dar, wie sich eine drifte Dimension ergibt, wenn eine Fläche in eine neue Richtung fortgeführt wird: Aus der Flächenform entsteht eine Körper-bzw. Raumform.
Doch neben den achsenparallelen Räumen schneidet Johannes Bierling auch Schrägen in den Holzblock, die von der Schauseite ausgehen und bis zur Standfläche‘ der Plastik an der Wand durchlaufen. Dem symmetrischen, meist punktsymmetrischen Gliederungsprinzip der Schauflächen entsprechend kontrastieren in der Regel zwei gegenläufige Schrägen, die gelegentiich von weiteren parallelen Bezügen verstärkt werden. (Nr. 1, Abb. Seite 17 oder Nr. IV, Abb. Seite 24)
Neben dieser Dynamisierung der statischen Ausgangsform des länglichen und runden Holzes verlieren die Skulpturen Übersichtlichkeit. Die Teilräume sind nicht mehr gänzlich einsehbar. So sieht sich der Betrachter gefordert, unterschiedliche Standpunkte einzunehmen, um den von einem einzigen Blickpunkt aus nicht mehr eriassbaren Räumen nachzuspüren, d. h. er verhält sich genauso, wie wenn er um eine auf einem Platz oder Sockel stehende Vollplastik herumgehen würde.
Mit der partiell eingesetzten monochromen Farbe, einem leuchtenden Orange und einem metallisilbrigen Grau, stellt Johannes Bierling inhaltliche Bezüge her: Einmal zur Realität des im Wald geschlagenen Holzes, das mit genau demselben Leuchtorange gekennzeichnet wird, zum anderen zu der gedanklichen Überlegung, den neutralen amorphen Raum mit dem indifferenten Grau zu repräsentieren. Widerspricht schon allein die aus einem gedanklichen Konzept entwickelte skulpturale Form dem traditionellen, in einem handwerklichen Verständnis begründeten Umgang mit Holz, so entfernt sie sich mit der monochromen Färbung noch einen weiteren Schrift von gewohnten Vorstellungen und Erwartungen.
Betrachtet man das bisherige Ceuvre von Johannes Bierling, so mag dessen formale Strenge die Zuordnung zum Konstruktivismus durchaus rechffertigen. Dagegen sprechen der Verzicht auf die bislang theoretische Fixierung der Bildgestalt durch begründete a-priori-Entscheidungen und auf deren serielle Umsetzung. Ein wichtiger Impuls für die Eritwicklung, an deren Ende die hier gezeigten zwöif Skulpturen stehen, ging vc)n den beiden 2,80 m hohen b7w. langen Holzskulpturen im Freiburger Stadtteil Rieselfeld aus (Seite 30), deren an Wände erinnernde Elemente in unterschiedlich spitzen Winkeln gegeneinander verlaufen, Raum einclringen lassen und zugleich unter dem Eindruck einer dyriamischen Auffächerung zum Außenraum enge Beziehung aufnehmen.
Die aus einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit einem im Entstehen begriffenen städtischen Raum entwickelten Holzskulpturen spiegelri formal und thematisch den Grenzbereich zwischen der bereits weitgehend erstellten und der erst zu erstellenden Siedlung wider. Dass Johannes Bierling in einer geschickten Bildregie die Abbiidung dieser beiden Plastiken an den Schluss seines Kataloges setzt, entspricht dem künstlerischen Vorgehen bei seiner Reihe. Auch dod endet der konkrete Herstellungsplan an der Basis.
Verfolgt man weiterhin die aus der künstlerischer Erfahrung mit einem städtebaulichen Thema heraus entwickelten Holzreliefs und Skulpturen (Seite 3 bis 11), so verwunded es kaum, dass Johannes Bierling sein künstlerisches Fazit in einer künstlerischen Arbeit wie der hier gezeigten Serie. fokussiert. Ferner erscheint es rückblickend geradezu zwangsäufig, dass er seine langjährige Auseinandersetzung mit der Druckgrafik in das Projekt miteinbezieht. Auf den Millimeter genau überträgt er mittels einer exakten mathematischen Berechnung (M = 2rnh) die runde Mantelform aller zwölf Holzskulpturen in die absolute Fiächigkeit des Linolschnitts und erzielt damit eine eigenständige grafische Wirkung. Von der Fläche der Schauseite geht der plastische Prozess aus. In der Flächigkeit der Grafik endet er. Das Ergebnis überrascht. Wer würde die Schauseiten der Holzskulpturen mit den Linolschnitten in einen Zusammenhang bringen?! Wohl niemand, der nicht über den Entstehungsprozess Bescheid wüsste. Das macht nun einmal die Faszination des KonstrLiktivismus aus: die verblüffende Einsicht, dass das gedanklich vermeintlich Vorhersehbare eben doch nicht vorhersehbar ist.